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Archive for Oktober 2009

In der FAZ stand damals am 28.10.1964 folgender Artikel:
Die Dichterin aus Königsberg.
Zum Tod der Agnes Miegel

[…] Am letzten Sonntag noch erschien ein christliches Wochenblatt mit der Überschrift „Die Ballade ist tot“. Es posaunte noch einmal aus, was seit 1946 eine gängige Meinung geworden ist. Diese Meinung traf auch die Dichtungen der Agnes Miegel. Wer – von ihren beharrlichen Freunden abgesehen – wäre letzte Woche noch eingetreten mit dem Satz: „Sie ist die größte lebende Balladendichterin“, mit dem Börries von Münchhausen die Ostpreußin schon in ihren jungen Jahren hervorhob; einer der doch Sachverstand in Sachen Ballade besaß […]
Agnes Miegel galt nach 1945 nicht mehr als das, was sie war, weil ein und dasselbe Ereignis zweimal verändernd auf ihre dichterischen Arbeiten wirkte. Die im Grenzland anders zu beurteilende Anfälligkeit für eine „großdeutsch“ sich gebende Figur wie Hitler brachte Verse auch aus ihrer Feder im Band „Ostland“ hervor, die sie nach 1945 als Autorin unwahr machten. Unzeitgemäß und unwahr, d.h. nicht mehr der Vorstellung von Literatur entsprechend, die sich nach der Hitler-Katastrophe bildete, erschien aber auch ihr Werk. Nicht weil in ihm das ostpreußische Land, Feld, Wald und Seen mit seinen schweren Stimmungen gegenwärtig war (es ist uns darin aufbewahrt wie Schlesien in den Büchern Hauptmanns und Stehrs), vor allem deswegen, weil man in ihren Balladen und Erzählungen ein Kräftespiel wahrnahm, das den Menschen nicht die aufgeklärte Freiheit zugestand, die man nach 1945 mit aller Energie und allem Engagement literarisch beschwor.
Die stärkste Kunstform der Miegel, ihre Balladen, in denen alte Mythen in die Gegenwart dieses Jahrhunderts hineinreichten, scheinen ein Opfer dieser veränderten Einstellung zur Literatur. Heinrich Hahne hat in seinem Aufsatz zum 85. Geburtstag der Miegel […] den Rang ihrer besten Dichtungen zu beschreiben versucht. Wir wollen hier nachtragen, daß wir in diesen, zu Anfang des Jahrhunderts geschriebenen Gedichten das Gegenstück zu der Ballade finden, die von Brecht bis Grass unter dem Einfluß Villons sich wieder geöffnet und dem literarischen Stil dieses Jahrhunderts „angepaßt“ hat. Erst diese Dialektik der Formen wirft auf die Balladen der Miegel ein richtiges Licht.
Ihr Stoff und ihr Ton sind der Miegel aus der Landschaft, in der sie groß wurde, zugewachsen. Ostpreußischer Rhythmus drängte sich auch in die Stoffe, die sie der französischen Geschichte oder der Antike entnahm. Ihre besten Erzählungen („Die Fahrt der sieben Ordensbrüder“) galten dem Land und der Geschichte, deren Kraft dort länger gespürt wurde als in den westlichen deutschen Landschaften, wo sich das Bewußtsein schneller enthistorisierte.
Zwei Bände Lyrik, drei Bände Erzählungen, ein Band Märchen und Spiele: das ist der Umfang ihres vor wenigen Jahren gesammelten Werks. Die fast mythische Verehrung, die sie zuletzt unter ihren ostpreußischen Landsleuten genoß („Die Mutter Ostpreußen“), läßt darauf schließen, wie sehr man sich an Literatur klammern kann, wenn sonst nichts mehr bleibt. Aber auch diese Reklamation auf das Landsmannschaftliche engt den Blick auf sie noch einmal ein, wenn es nicht überhaupt als ein gewaltsamer Treuedienst gegen das Vergessen und Übersehen aufzufassen ist. […] Eine Auszeichnung wie die der Bayerischen Akademie der schönen Künste, deren Literaturpreis sie 1959 erhielt, war ein großes Zeichen zurückgewonnener Achtung. Aber noch ist nicht entschieden, wann der Blick auf ihre Dichtungen wieder gerecht wird.
g.r.

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