In der Stadt Warendorf, der Agnes Miegel in ihrem letzten Lebensabschnitt
seit 1949 besonders verbunden war und in der seit 1959 zunächst jährlich die
von dem dortigen Tatenhausener Kreis gestiftete „Agnes-Miegel-Plakette“ für
Verdienste um das Werk Agnes Miegels und die Ost-Westdeutsche Begegnung
verliehen wurde, sah sich ein Redakteur der dort erscheinenden
„Westfälischen Nachrichten“ veranlasst, in einem Zeitungsartikel am
26.06.2010 wieder einmal Agnes Miegels Einstellung zum NS-Staat und speziell
zu Hitler zu thematisieren und die Bevölkerung der Stadt zu einer Abstimmung
darüber aufzurufen, die dort zur Ehre der ostdeutschen Dichterin 1989
benannte „Agnes-Miegel-Straße“ wegen ihrer NS-Vergangenheit umzubenennen.
Einer der nachfolgenden Leserbriefe von einem Herrn K.A. am 29.06.2010 sah es als
„Skandal und Zumutung für die Einwohner“ an, „dass es in Warendorf immer
noch eine Agnes-Miegel-Straße gibt“. Er schimpft die ostpreußische Dichterin
„eine unbelehrbare Hitler-Bewunderin“ und „geistige Mätresse des Führers“
und schlägt zugleich die Umbenennung der Straße nach dem Namen des in
Dresden 1902 geborenen, 1933 nach USA emigrierten und 1993 in Tübingen
verstorbenen deutsch-jüdischen Schriftstellers und Übersetzers Hans Sahl
vor, der zu Warendorf in keiner Beziehung stand.
Auf die Berichte in den Westfälischen Nachrichten antwortete der seit 1962
in Warendorf ansässige und seitdem ehrenamtlich dort in der Heimat- und
Kulturpflege von Stadt und Kreis Warendorf tätige und an der Universität
Münster seit 1978 als Historiker lehrende Prof. Dr. Paul Leidinger am 1.
Juli 2010 mit der nachfolgenden Stellungnahme, die wir hier wiedergeben.
Agnes Miegel und Warendorf
Die am 9. März 1879 in Königsberg/Ostpreußen geborene und am 26.10.1964 in Bad Salzuflen im 85. Lebensjahr verstorbene Agnes Miegel war beim Regierungsantritt Hitlers und seiner NS-Partei 1933 bereits 54 Jahre alt und als Dichterin und Schriftstellerin deutschlandweit und auch international anerkannt. Sie war als Krankenschwester und Erzieherin, die u.a. 1902/03 in England weilte, ausgebildet und hat sich ohne akademisches Studium in ihrem selbstgewählten schweren schriftstellerischen Beruf durchgesetzt. 1916 wurde sie mit dem Kleistpreis und 1924 von der Universität Königsberg mit der Ehrendoktorwürde geehrt. Die NS-Partei umwarb 1933 die erfolgreiche und anerkannte Dichterin, die keine Anhängerin der Ideologie dieser Partei war, sondern einen jüdischen Bekanntenkreis u.a. mit Martin Buber hatte. Die heimatverbundenen und an sich unpolitischen Themen ihrer Dichtung wurden von der NS-Ideologie und ihren Organisationen vereinnahmt und führten 1933 zu ihrer Berufung durch den NS-Staat in die gleichgeschaltete Sektion der Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, mit der zwangsläufig auch ein Treueid auf Hitler verbunden war. Für ihre weitgehend unpolitische Einstellung spricht, dass sie erst 1937 der NS-Frauenschaft und 1940 der NSDAP – wie weit unter politischem Druck? – beitrat, also keineswegs als fast 60-Jährige zu den ideologischen und politischen Scharfmachern des NS-Systems gehörte. Allerdings blieb sie bis in die letzte Kriegszeit, die ihre Heimat durch den Vormarsch der Russen erfasste, deutsch-national gesinnt. Mit fast 66 Jahren gelang ihr am 27. Februar 1945 noch aus dem eingeschlossenen Königsberg auf dem Seeweg die Flucht nach Swinemünde, wo sie einem vernichtenden US-Luftangriff nur mit Glück entging, und dann weiter nach Dänemark, wo sie in Flüchtlingslagern bei Esbjerg mit 40.000 anderen Schicksalsgenossen interniert wurde. Später fand sie in Niedersachsen als Flüchtling Aufnahme, wo Bad Nenndorf zu ihrer letzten Heimat wurde und heute im Agnes-Miegel-Haus ihr Archiv und Museum sowie der Sitz der „Agnes-Miegel-Gesellschaft“ untergebracht ist.
Warendorf knüpfte 1949 durch Vermittlung von Oberstudienrat Solf, der als Flüchtling aus Ottmachau/Schlesien in der Emsstadt Aufnahme fand und sich sehr um die Förderung der Kultur hier verdient gemacht hat, durch eine erste Autorenlesung direkte Kontakte mit Agnes Miegel, die sich fortan vertieften und 1950 – anlässlich des 750-jährigen Stadtjubiläums Warendorfs – zu einem Essay der Dichterin an die durch den Krieg unzerstörte Emsstadt führten. Es wurde die Grundlage zu der am 26.07.1952 der Stadt gewidmeten „Hymne an Warendorf“, die der damals in Warendorf weilende Komponist Kuno Stierlin vertonte. Die feierliche Uraufführung erfolgte 1955 im damaligen Bürgerschützenhof unter großer Anteilnahme der Bürgerschaft (die umfangreiche Originalhandschrift der seitdem nicht wieder aufgeführten Komposition befindet sich heute im Stadtarchiv Warendorf).
Ost- und Westdeutsche Heimatfreunde in Warendorf und Umgebung, die sich 1972 im sog. „Tatenhausener Kreis“ zu einer landeskundlich orientierten Gesellschaft zusammenschlossen und die Begegnung zwischen Heimatvertriebenen und ihrer ostdeutschen Heimat und einheimischen Westdeutschen und ihrer Heimat fördern wollten, stifteten 1958 mit Einverständnis der Dichterin eine „Agnes-Miegel-Plakette“ für Verdienste um die Ost-Westdeutsche-Begegnung. Die Plakette wurde 46 mal verliehen, zuletzt am 22.10.1993 an Bundesminister a.D. Dr. Heinrich Windelen für seine Verdienste um die Integration der Vertriebenen in Deutschland wie um die Verständigung zwischen Deutschland und Polen. Die ersten Verleihungen und die letzte fanden im historischen Rathaus der Stadt Warendorf statt.
Der Name Agnes Miegels ist nach 1945 in vielfältiger Weise mit der Stadt Warendorf verbunden. Am Rathaus der Stadt am Markt ist ein Spruch von ihr in Bronze gegossen angebracht: „Von der Heimat gehen, ist die schwerste Last, die Götter und Menschen beugt.“ Der Tatenhausener Kreis übergab die von ihm und den Vertriebenen gestiftete und aus Resten alter Breslauer Glocken gegossene Bronzetafel am Tag der Heimat 1955 in einer festlichen Veranstaltung der Stadt Warendorf. Der Spruch ist einer bereits 1928 entstandenen visionären Ballade Agnes Miegels „Die Fähre“ entnommen.
Wer sich kritisch mit Leben und Werk Agnes Miegels beschäftigt, muss dies umfassend tun, um ihr gerecht zu werden. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Warendorfs Bürger dabei zu einer gerechten Würdigung der ostpreußischen Dichterin und auch ihres besonderen Verhältnisses zu Warendorf kommen.
Prof. Dr. Paul Leidinger, Warendorf
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