Im August erreichte mich eine erfreuliche Nachricht aus der Bar Ilan University in Ramat Gan, Israel (bei Tel Aviv) – der Aufsatz einer jungen Literaturwissenschaftlerin über Abisag von Sunem, eine Figur aus dem Alten Testament, ist endlich publiziert worden, in der renommierten Fachzeitschrift „neohelicon“. Vor einigen Jahren hatte mich Frau Dr. Anat Koplowitz-Breier angeschrieben und um den Text von Agnes Miegels Gedicht über diese biblische Gestalt gebeten, der ihr nicht zugänglich war. In ihrem Aufsatz vergleicht sie die dichterische Ausformung dieser Figur in Gedichten von Rainer Maria Rilke, Hedwig Caspari, Franz Theodor Csokor und Agnes Miegel. Diese wissenschaftliche Abhandlung „Biblical/modern intergenerational conflict: four modern German poets on ‚Abishag the Shunammite’“ ist in englischer Sprache erschienen und befasst sich streng literaturwissenschaftlich sachlich mit dem Thema der vier Gedichte.
Erfreulich ist diese Neuigkeit in mehrfacher Hinsicht: dass eine junge Literaturwissenschaftlerin sich mit einem Gedicht von Agnes Miegel eingehend auseinandersetzt und dies ohne jegliche ideologische Vorbehalte tut – umso mehr noch, als diese Wissenschaftlerin in Israel tätig ist. Thematisch befasst sie sich ausschließlich mit den Gedichten der genannten vier Autoren, im Falle Agnes Miegels mit dem Gedicht, das 1901 zuerst veröffentlich wurde – ein literarisch wertvolles Gedicht mit besonderer Aussage. Dabei schweift die Autorin nicht ab zu der einzigen Thematik, die deutsche Intellektuelle seit etlichen Jahren oder Jahrzehnten vorrangig beschäftigt und gebannt hält.
Damit hat wieder einmal die ausländische Germanistik der deutschen einiges an Unbefangenheit voraus. Ich erinnere hier an die Analyse des polnischen Germanisten Tadeusz Namowicz über Agnes Miegel als grenzlanddeutsche Dichterin ihrer Zeit, wobei er zu dem Ergebnis gelangt, sie sei keine ‚NS-Dichterin’…
Es ist an der Zeit, dass auch hierzulande Germanisten und Historiker sich wieder wissenschaftlich ernsthaft mit Agnes Miegels dichterischen Werken und ihrem Leben in ihrer Zeit befassen, statt mit Vorurteilen. Es ist an der Zeit, dass einer sachlich unbestechlich argumentierenden Wissenschaft wieder mehr Wertschätzung entgegengebracht wird als einer ‚politisch korrekten’ unwissenschaftlichen Debatte voller Polemik, Halbwissen und Ignoranz.
Dr. Marianne Kopp
Literaturwissenschaft in Israel
Dezember 13, 2015 von adminamg
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